Stellwerk, 26.2.2016 (Nemčija)
POETICA²: INTERVIEW MIT ALEŠ ŠTEGER
DIE WELT, DIE DINGE, DER MENSCH, DIE SPRACHE
VORWORT
Nach dem großen Erfolg des ersten Festivals für Weltliteratur des Internationalen Kollegs Morphomata im vergangenen Jahr, das von Michael Krüger kuratiert wurde, wird die “Poetica2” in diesem Jahr von dem international renommierten Lyriker Aleš Šteger ausgerichtet.
Vom 25.-30. Januar 2016 werden wieder zahlreiche Gespräche, Lesungen und Diskussionen stattfinden, die unter dem Motto „Blue Notes“ oder „In Sätzen leben, in Versen tanzen“ stehen. Die eingeladenen Autoren bewegen sich zwischen den verschiedenen Formen und Gattungen.
Zu Gast sind: Juri Andruchowytsch aus der Ukraine, Bernardo Atxaga aus Spanien, Georgi Gospodinov aus Bulgarien, Lavinia Greenlaw aus Großbritannien, Durs Grünbein aus Deutschland, Paul Muldoon aus den USA, Ilma Rakusa aus der Schweiz, Ana Ristović aus Serbien und Sjón aus Island. Zum Abschluss des Festivals treffen sie auf Autoren der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die neu hinzukommen. Es sind die Lyriker Heinrich Detering, Michael Krüger und Monika Rinck sowie die Romanciers Navid Kermani und Martin Mosebach.
Die zweite “Poetica” steht unter dem Motto “Blue Notes”. Welche Bedeutung hat die Farbe für Sie und Ihre Literatur?
“Blue Notes” hat zunächst einmal etwas Musikalisches. “Blue Notes” ist ein bekanntes Jazz-Label. Viele der eingeladenen Autoren sind literarische Amphibien, das heißt sie sind sowohl in der Lyrik wie auch in anderen Formen zuhause. Sie haben herausragende Prosabände geschrieben, Romane, Dramen, einige schreiben für Punk- oder Rockbands und einige begeben sich beispielsweise mit visuellen Künstlern in ganz neue Formen. Es handelt sich also um Autoren, die gerne im Sinne von Free Jazz experimentieren. Die Farbe Blau als solche hat in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Konnotationen, und da es ein Festival für Weltliteratur ist wollen wir über diese verschiedenen Varianten von Blau reden. Im angelsächsischen Raum gibt es diese starke melancholische Konnotation: “I feel blue”. Wenn man in meiner Sprache zu jemandem sagt er sei blau, heißt das er ist weise. Auf Deutsch ist das etwas ganz anderes. Hier versuchen wir mit diesen Facetten zu spielen und sie aufzufächern. Eigentlich wird dies als Ausgangspunkt für sehr verschiedene Themen genutzt. Ich glaube wir werden in dieser sehr zugespitzten, geschichtlichen Situation nicht umhinkommen über Politisches zu reden. Das blaue Meer, das Mittelmeer, ist zu einem Grab für unzählige Flüchtlinge geworden. Wie reagiert man als Schriftsteller heute auf diese dringenden gesellschaftlichen Fragen? Wie beeinflusst das unser Wahrnehmen? Das sind Fragen, die hoffentlich aufkommen werden.
Bei der letzten “Poetica” waren politische Fragen auch direkt im Programm verankert. Sind diese jetzt eher unterschwellig eingeflossen?
Das Politische war vor allem in dem Gespräch über die Ukraine und Joseph Brodzkis Gedicht verankert. Dieses Mal haben wir das nicht so direkt ansetzen wollen. Ich weiß aber, dass viele der Autoren sich zu diesen Zukunftsfragen geäußert haben. Das Politische wird somit ganz bestimmt zum Vorschein kommen. Es sind sehr unterschiedliche Autoren und jeder bringt seine eigene Weltauffassung und seine eigene Sprache mit. Es ist oft schwierig einen gemeinsamen Nenner zu finden, sodass man sehr behutsam sein muss und in der ganzen Woche diesen Nenner suchen wird. Während der “Poetica” können wir hoffentlich einen tieferen Austausch haben, als es sonst oft bei literarischen Veranstaltungen der Fall ist. Das Literaturbusiness funktioniert inzwischen sehr unter Zeitdruck: Man wird eingeflogen, man hat ein Interview, man liest und dann ist man schon am nächsten Tag wieder weg. Die “Poetica” schafft eine wirkliche Ausnahmesituation, bei der ausgewählte Autoren auf engstem Raum in verschiedensten Formaten eine Woche zusammen sind. Auch im Vergleich zu anderen Festivals ist das sehr viel Zeit. Man ist normalerweise auch viel mehr inkognito und kann sich eher zurückziehen. Für die “Poetica” haben wir explizit nach Autoren gesucht, die das Aufeinandertreffen suchen. Dadurch erhoffe ich mir, etwas Nachhaltiges zu schaffen, sowohl beim Publikum als auch bei den Autoren.
Was macht dieses Spiel der “literarischen Amphibien” mit den unterschiedlichen Textformen für Sie aus? Bietet dies vielleicht eine Art Mehrgewinn für die einzelnen Gattungen?
Das ist eher eine individuelle Frage. Für mich hat es sich so ergeben, dass ich mich vor 15 Jahren in der Gefahr sah, mich als Lyriker zu wiederholen. Ich habe mich daher dazu entschlossen, mich in anderen Formen zu versuchen. Es ist also manchmal mit einem Entschluss verbunden, während man auch von der Sprache selber oder vom Material verführt werden kann. Man hat einen Einfall und weiß instinktiv, dies wird nicht nur ein Gedicht oder ein Gedichtzyklus, daraus könnte man viel besser etwas in Prosaform machen oder etwas für das Theater. Es entwickelt sich ein Gefühl, das nicht nur Konsequenzen für die Arbeit hat, sondern auch für den Schriftsteller, weil man mit einem Text auch eine Zeitlang lebt. Der Text speist sich sozusagen aus einem selbst. Wie man Gedanken, Ideen, Eindrücke verarbeitet, wie man versucht zu denken, ist dann immer im engsten Bezug zur Form. Also ganz konkret: Wenn ich einen Roman schreibe, dann muss ich auf ganz andere Sachen aufpassen. Wenn ein Charakter auf Seite dreizehn ein blaues Hemd hat, dann muss er es auf Seite 125 auch tragen. Es sind banale Sachen, aber das heißt, man ist anders in der Welt verankert, wenn man auf diese Art und Weise denkt. Dahingegen ist ein Gedicht viel ätherischer. Man versucht hierbei eine Sprache für das zuvor Unsagbare zu finden. Lyrik ist daher eher abstrakt und arbeitet mit emotional physischen Empfindungen, wohingegen die Prosa meistens sehr logisch strukturiert ist.
Wenn man beispielsweise Ihre Dinggedichte aus dem Buch der Dinge 1 mit den Dinggedichten von Francis Ponge vergleicht, dann merkt man, dass Sie seinen logischen, definitorischen Gedichten eher widersprechen. Sie haben diese konkreten Benennungen auch als “antipoetischen Gestus” und “gewalttätigen Akt” beschrieben.
Ja, so sehe ich es zumindest. Aber ich bin auch nicht logozentrisch. Für viele ist das Benennen genau das, was den Kern der Lyrik ausmacht. Ein mancher Lyriker würde gerade darin das Höchste der Lyrik sehen, ich nicht.
Trotzdem machen auch Sie diese benennende Sprache für Ihre Texte nutzbar.
Dem kann man nicht entgehen. Aber das Benennen entsteht aus verschiedenen mentalen Ebenen heraus: Das, was wir als Werkzeug in der Sprache empfinden, ist eigentlich eine klare, logisch definierte Sprache. Nun wissen wir aber, dass die Sprache auch ihre Abgründe und ihre undefinierten Ränder und Übergänge hat, ihre Assoziationsfelder, die nicht komplett logisch einnehmbar sind. Diese Randpositionen kann man als Ausgangspunkt für das Schreiben nehmen. Dann wird der philosophisch zentrierte Logos nicht mehr als höchste Instanz empfunden, sondern als etwas, das nebenbei kommt, das man immer wieder unterwandert, das man hintergeht, um damit zu spielen und zu zeigen, wie relativ es ist, wie relativ unserer Weltauffassung ist, die wir für die einzig mögliche halten.
Das Schreiben ist somit für Sie auch ein Weg, um aus der Standardwahrnehmung auszubrechen?
Ja, aber die Standardwahrnehmung ist etwas Logisches, eine Stütze, die uns im alltäglichen Leben hilft. Das höchste Maß dieser alltäglichen logizistischen Sprache ist die juristische Sprache. Mit ihr versucht man alles ganz genau zu definieren, so dass keine Lücke entsteht, durch die jemand herausschlüpfen könnte. Hingegen ist die Dichtersprache eher wie ein Bienenstock. Sie ist etwas, das sehr stark frequentiert wird, das so viele Öffnungen wie nur möglich haben muss, welche mit Süßem gefüllt sind.
Kann man diese Bild von der Dichtersprache auch auf die Prosa und ihre Zwischenformen übertragen?
Absolut. Aber den Zwischenformen schenkt unsere postkapitalistische Gesellschaft immer weniger Aufmerksamkeit, sei es die Kurzprosa, seien es experimentelle Formen von Prosa, sie spielen fast keine Rolle im literarischen Geschäft. Was den Markt angeht, sind sowohl Lyrik als auch diese hoch interessanten Prosaformen, in denen der eigentliche Fortschritt stattfindet, ausgeschlossen. Betrachtet man die zeitgenössische Romanproduktion, dann findet man unter diesem Label schon fast alles, weil es die einzige Form ist, die sich gut verkauft. Dabei weiß man im Vorhinein bereits, welche Sprache man benutzen sollte, um erfolgreich zu sein. All die Bestseller sind von ihrer Aufmachung, ihrer Struktur schon im Voraus sehr eingeengt. Es muss in einer realistischen Sprache verfasst sein, es müssen bestimmte Themen wie Mord oder Liebe vorkommen. Große Verlagshäuser im angelsächsischen Raum verwenden Programme, die Manuskripte statistisch auswerten: Man gibt Texte ein und das Programm sucht nach Schlüsselwörtern. Es sagt schließlich, ob die Frequenz der Wörter, die Liebe oder Aggression benennen, hoch genug ist. Das ist wirklich bizarr und sagt viel über den Markt aus, aber nichts über die künstlerische Qualität. Diese Gradwanderung zwischen dem eigenen Ich, dem eigenen Instinkt und der Anpassung an die Marktkonditionen wird auch ein Thema bei der “Poetica” sein.
Wie versuchen Sie persönlich aus diesen Zwängen des Marktes auszubrechen?
Ich mache andere Sachen, um zu überleben. Ich bin von meiner Literatur nicht existenziell abhängig und das behalte ich auch so bei, um wirklich das zu schreiben, was ich schreiben möchte.
Ihr Schreiben bleibt also Kunstform und wird nicht zum Produkt für den Markt?
Ja, da muss man aber auch etwas vorsichtig sein, denn diese Gliederungen sind nicht immer eindeutig. Es kann auch eine sehr große Herausforderung sein, etwas für den Markt zu schreiben, es dieses Mal aber vielleicht etwas anders zu schreiben. In vielen amerikanischen Serien zeigt sich dieser Trend schon, in der Literatur noch nicht so stark. Neulich habe ich hierzu einen Text in der Zeit, vom Regisseur und Drehbuchautor Milo Rau gelesen: Er ist der Meinung, wenn etwas in der Welt geschieht, dann dauert es lange bis die Gesellschaft reagiert und mit ihrer gesetzgebenden Apparatur handelt und erst ganz am Ende reagieren die Künstler. Zuvor, in der Avantgarde, war es noch so, dass die Künstler die Vorreiter waren, heute hinken wir dem Geschehen hinterher. Dadurch wird auch die Funktion eine ganz andere. Der zeitgenössische Künstler ist jemand, der in der ganzen Komplexität der Welt versucht, Prozesse und Ereignisse zu verstehen und sie als Metaphern aufzufassen, die für die Zukunft brauchbar sein könnten.
In der Rückschau hat Literatur also wieder eine Funktion für die Zukunft?
Ich sehe das auch im Fall der Balkankriege, welche ich zwar nicht richtig, aber doch sehr nahe miterlebt habe, denn Slowenien war ein Teil von Ex-Jugoslawien. Es hat sehr viel Zeit bedurft, dass herausragende literarische Texte über den Krieg geschrieben wurden. Die Literatur braucht Zeit, um zu verdauen, sie ist nichts Unmittelbares. Auf der anderen Seite ist unsere Zeit etwas sehr Flüchtiges geworden, durch die Sozialen Medien, durch das Internet. Alles geschieht gleichzeitig. Literatur muss sich neu positionieren. Das ganze Feld ist noch immer auf der Suche nach einer Antwort.
Sie sehen sich als Zuhörer dieser komplexen Welt. Versuchen Sie die Unmittelbarkeit zum Beispiel mit dem Projekt “Atlas unserer Zeit”2 zu durchbrechen?
Ja, das ist ein Spiel mit dieser Idee, so unmittelbar aber auch brüchig und selbstrelativistisch zu schreiben wie man kann, aber trotzdem noch mit dem Anspruch, Literatur zu verfassen, nicht Journalismus, Bericht oder Blog. Es gibt unterschiedliche Arten mit unterschiedlicher Dichte oder Komplexität umzugehen. Bloße Beschreibungen finde ich eigentlich uninteressant. Außerdem könnte das Visuelle auch von einer Kamera viel besser eingefangen werden als von der Sprache.
Aber darum geht es in den 12 Stunden des Schreibens wahrscheinlich auch gar nicht?
Nein. Es ist eher so, dass man sich in eine unmögliche Lage versetzt, dann versucht man sein Bestes. Man ist vorbereitet, ins Ungewisse zu stürzen und dort irgendetwas zu machen, einen Tanz zu vollziehen oder einfach still zu sein. Eben ohne die Möglichkeit, mit mehreren Revisionen den Text wasserdicht und stoßsicher zu machen.
Fällt es Ihnen schwer, nichts korrigieren zu können?
Es fällt schwer. Es öffnet aber auch einen gewissen Raum, den man meistens verschlossen hält, weil so viel vom Text bei Revisionen wegfällt. Das bleibt hier alles drin und zeigt das Unvollkommene, die Fragilität und das Unvermögen. Das Unbekannte ist eigentlich die tägliche Situation, nicht das absolut Durchdachte. Es geht darum, sich in eine Situation zu bringen, die literarisch zuvor noch nicht erschlossen war. Ich empfinde es als absolute Freiheit, wenn ich hierbei jeden nur möglichen Unfug und Fehler begehen kann. Normalerweise weiß ich eigentlich, was man für ein Format von mit erwartet. In diesen zwölf Stunden wird von Außen nichts von mir erwartet. Ich darf auch von mir selber nichts erwarten. Das ist sehr schwierig, weil man eigentlich immer etwas von sich selbst erwartet. Es ist eher so, dass man in einer unmöglichen Lage, versuchen muss zu lauschen, das ist nicht immer leicht. Das geht Zuhause im eigenen Zimmer viel besser. Subjektiv, schriftstellerisch kann man der Welt im Stillen besser lauschen, als an einem Ort, den man nicht kennt und unter Leuten, die einem fremd sind, die vielleicht auch eine fremde Sprache sprechen. Das sind alles Dinge, die einen von der Reflexion abhalten. Aber gerade das ist es, was in der Welt permanent mit den Menschen passiert.
Genau diese Frage, was mit den Menschen passiert, lässt sich zumindest aus den Titeln Ihrer beiden bekannten Gedichtbände dem Buch der Dinge und dem Buch der Körper 3 nicht direkt ablesen.
Das Buch der Dinge entstand nach dem biblischen Konzept, die Erschaffung der Welt bis zum Menschen nachzuverfolgen. Für mich stellt es eigentlich die Welt ohne Mensch dar, obwohl dieses Duo von Ding und Mensch immer wieder vorkommt. Es ist auch die Abkehr von einem Subjekt, von einem Ich-Sprecher. Danach wollte ich den Menschen über den Körper beschreiben, weil gerade der Körper das Mystischste am Menschen ist und nicht die Sprache. Der eigene Körper bleibt, trotz all der Zeit, die wir miteinander verbringen, etwas Unbekanntes, wie er sich verändert, was er von uns will, seine Krankheiten und Tücken. Das Ich, das durch die Sprache konstruiert wird, das sind wir eigentlich. Wir sind wie das Extraterrestrische, in einem Körper gefangen, deshalb wollte ich versuchen über diese Körper zu schreiben.
Also ist der Mensch, trotz der Brüchigkeit der Sprache, in ihr beheimatet?
Ja, genau.
Wenn man in mehreren Sprachen Zuhause ist und wie Sie den Übersetzungsprozess sowohl aus der Sicht des Literaten als auch des Übersetzers kennt, muss man nicht gerade die Übersetzung für einen gewissen “gewalttätigen Akt” halten, welcher der Originalsprache etwas entzieht und etwas Neues in den Text einschreibt?
Ja, natürlich, man kann es auch so radikal sehen, dass jeder Sprachakt schon ein Gewaltakt der Benennung ist. Aus dem Ungesagten reißt er eigentlich nur ein paar Wörter heraus. Aber das finde ich persönlich zu radikal. Im Übersetzen versucht man, nachzuahmen oder sprachliche Konstellationen zu entwerfen, in denen wieder etwas möglich wird. Es gibt verschiedene Traditionen, in die wir uns einschreiben, aber inwieweit das übersetzbar ist, ist fraglich. Wenn ich beispielsweise Gottfried Benn ins Slowenische übersetze, diese karge, autoironische bis zynische Sprechweise, die auf Deutsch ja so faszinierend ist und so verständlich greift, kann ich das im Slowenischen nicht ganz so machen. Diese Traditionen fehlen. Diese Stärke von Benn kann fast nicht wiedergeben werden. Für einen deutschen Sprecher, mit all der Geschichte des deutschen Großbürgertums, der Beziehung zu England, kommt beim Lesen eine ganze Epoche auf, bei uns kommt da nichts. Auf der anderen Seite gibt es aber auch slowenische Lyriker, die bisher noch nicht gut übersetzt wurden. Man versucht immer das Mögliche. Dadurch lernt man aber auch extrem viel über sich selbst, seine Sprache, sein kulturelles Umfeld und über das andere Ich. Für mich ist Übersetzen immer wieder ein Begegnungs- und Lernprozess. Deshalb wähle ich auch fast ausschließlich Lyriker fürs Übersetzen aus, die auf mich einreden. Ich stelle mich ganz der Begegnung zur Verfügung.
Für Sie sind die Menschen in der Sprache verortet. Ist das gerade der Nutzen der Dichtung, den Menschen darin wiederzufinden?
Wir leben in einer Zeit des Überflusses, und nicht alles braucht einen direkten Nutzen zu haben. Es braucht nicht direkt von unserem parasitären kapitalistischen System instrumentalisiert zu werden. Für mich persönlich sind Gedichte so etwas wie die besten Freunde. Gedichte von anderen, die in mir herumschweben und sich zu Wort melden. Durch Gedichte erfährt man die eigene Vergangenheit neu. Meistens sehen wir unsere Vergangenheit als etwas, das fest dasteht, obwohl das Denken über Vergangenes immer einen großen Teil des Erlebten ausschließt. Gedichte beleuchten dieses Ausgeschlossene neu und können dadurch die Vergangenheit neu konstruieren. Gerade in unserer traumatisierten Kultur versucht man, sowohl vom Vergangenen zu lernen, als auch zeitgleich vor der Geschichte zu fliehen.
Dann kann man auf jeden Fall gespannt sein, wie unterschiedlich die anderen Autoren der »Poetica2« die Vergangenheit und die Gegenwart literarisch beleuchten werden.
Kurzbiografie: Aleš Šteger (1973) gehört zu den wichtigsten slowenischen Autoren der heutigen Zeit. Neben seiner Arbeit als Lyriker, Essayist und Verleger hat er auch mehrere Übersetzungen – etwa von Gottfried Benn, Durs Grünbein und Pablo Neruda – geschrieben. Bekannt ist er vor allem durch seine Gedichtbände Kašmir, der 2001 auch in deutscher Übersetzung erschien sowie das Buch der Dinge (2006) und das Buch der Körper (2012). Zuletzt erschien der Roman Archiv der toten Seelen (2016). Für seine Veröffentlichungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, z.B. den Rožanc Award, der in Slowenien jährlich für das beste essayistische Werk vergeben wird.
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