Laudatio auf Aleš Steger von Durs Gruenbein, 2016

Im Bauch der Wörter

Laudatio auf Aleš Steger

 

Vor kurzem überraschte mich eine Zeitungsmeldung. Neuerdings, las ich da, gibt es einen »Welt-Schlaganfall-Tag« (es ist der 29. Oktober). Es gibt ihn so, wie es einen »Welt-Toiletten-Tag« gibt, einen »Welt-Flüchtlings-Tag«. Seit einiger Zeit gibt es auch einen »Welttag der Poesie«, und damit ist es nun amtlich: Jährlich am 21. März wird wieder der Poesie gedacht wie eines lieben Verwandten im System der Literatur, dem auch ein Platz gebührt zwischen all den wirklich wichtigen, die Menschheit aufwühlenden Stichworttagen im Turnus der Jahre.

 

Was überrascht einen Dichter? Die Frage erhebt sich als erstes, weil ich glaube, daß Aleš Steger einer ist, der sich gern selbst überrascht und von den Ereignissen überraschen läßt. Seit ich ihn lese, weiß ich, da schreibt einer, der es mit dem Zufall aufgenommen hat. Er steuert auf Konstellationen zu, in denen sich blitzartig die Vielfalt des Lebens erhellt. Seine Gedichte, seine Prosa – das eine ist für ihn nicht vom andern zu trennen – sind auf der Suche nach der unmittelbaren Einsicht, in Philosophenkreisen Evidenz genannt. Der Bildkomplex ist der Kern seiner Poetik. Das Bild, das eine Fülle von Ansichten enthält, eine ganze Galerie von Bildern. In seinen Texten geht es zu wie in einer barocken Wunderkammer, einer Eremitage, wo die Gemälde von oben bis unten die Wände füllen nach dem Prinzip der Petersburger Hängung.

Das ist nicht leicht zu erfassen, der Betrachter wird überfordert; ihm wird mehr zugemutet als er im Augenblick entschlüsseln kann. Man kann ihm aber folgen, wenn man sich auf das konzentriert, was er selber die Eingänge nennt. Auf einige dieser Eingänge wird der Leser hingewiesen, andere gilt es zu suchen. Seine Texte, die Gedichte zumal, sind auf wiederholte Lektüre angewiesen. Aber sie sperren sich auch nicht – am Ende sind sie doch immer zugänglich – nur verweigern sie sich einem schnellen Verständnis. Insofern gehorchen sie einer Strategie, wie wir sie aus den Zeiten des Surrealismus kennen. Nur daß in seinem Fall die Lesbarkeit der Welt kein Vabanquespiel mit unbekanntem Einsatz mehr ist. Das gibt es in der Literatur – genauso wie in der Kunstgeschichte: Im Glücksfall werden hier Positionen überdacht, früh geweckte Erwartungen erfüllt. Ein neuer Navigator taucht auf, er putzt die Instrumente, und siehe da: Man lernt in der Unübersichtlichkeit sehen. »Ich lerne sehen« war das Credo des jungen Rilke in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. »Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nichts wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.« 

Dort, Das und Dann sind hier die Schlüsselworte, die richtungweisenden Adverben. Sie tauchen so auch in Aleš Stegers »Buch der Körper« auf, als Kapitelüberschriften jedes der Teile dieses Triptychons aus Gedichten und Prosagedichten. Sie führen direkt in den Schreibprozess dieses slowenischen Dichters hinein. Aleš Steger ist einer, der nach und nach, immer klarer, zu sehen gelernt hat. 

In seinen Gedichten kommt das tägliche Leben mit seinen Zufällen – eine Zeitungsnachricht, ein Museumsbesuch, der Tod enger Freunde, ein Fußmarsch ins Umland von Cambridge mit der Lebensgefährtin, der Druck wegen eines Abgabetermins, eine Erinnerung zur Unzeit – pünktlich zum Vorschein. Der das alles registriert aber ist sich in jedem Moment selber prekär. Er hat keine feste Warte, von der aus er die Welt wie einen Nachrichtenstrom empfangen könnte, die Dinge gehen durch ihn hindurch. 

»Zwischen mir und ihm, der das schreibt, besteht ein Unterschied. Beide bewohnen wir einen Körper. Ein Ich, ein Er und ein Körper. Von allen dreien ist das einzige Rätsel der Körper. Zwischen mir, dem Blinden, und ihm, dem nicht nach Sehen zumute ist, wird er nie zu mir und ich nur ab und zu zu ihm. Ein müder Badezimmerspiegel, der Körper ist der Dunst, der ihn beschlägt.«

Der Autor steht also neben sich, er lauscht dem Dialog von Körper und Seele, wie seine Vorgänger, die metaphysischen Dichter der Barockzeit, es taten. Er spaltet sich auf und wird selbst gespalten von der Wucht der Augenblicke, die ihm seine Sterblichkeit signalisieren.

»Wenn ich er bin, schreibe ich. Wenn ich ich bin, betrachte ich das Geschriebene. Der Natur nach bin ich ein häretisches Wesen. In meinen Socken ist das Chaos aufgehoben.«

Einem, der so schreibt, wird das Gedichtemachen natürlicherweise zur Konfrontation mit der jeweils neuesten unübersichtlichen Lage, den schockierenden Zwischenfällen in Gesellschaft und Alltag. Gleichzeitig folgt er dabei aber doch unbeirrbar einer gedachten lyrischen Linie. Diese Linie ist das Verbindende, das alle Überraschungen klammert, solange der Zufallsmensch, der da schreibt, die Zeichen zu sammeln versteht. Wie heißt es in seinem »Buch der Körper«?

»Nur der Terror

Von Zufällen

Ist ausreichend definiert.

Und die Kanten

Klarer

Bestimmbar

Mit intelligentem Unsinn.

(…)

So wie die Hände

Das Papier

Falten,

So faltet

Zeit

Worte.«

 

Damit ist ein Ton angeschlagen, ein Programm umrissen, eine Logik gesetzt. Es ist eine Logik, so scheint es, die in der Schule der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins aufgepaßt hat. In ihr treten die Wörter zunächst als ihre eigene Wirklichkeit auf, bevor sie, in einem zweiten Schritt ihre psychotrope Magie entfalten. 

Steger ist ein methodischer Dichter. Bei ihm bringen die Worte ihr volles Eigengewicht, ihr Eigenrecht mit. Sie stehen im Raum des Gedichts isoliert und verweisen auf ihren Standort im Sprachlexikon. Als solche gehören sie zu einer Ordnung, die ihnen vom Al-phabet und per Definition zugeschrieben wird. Damit aber begnügt sich der Mensch Aleš Steger zum Glück nicht. Er verharrt nicht am Nullpunkt der Wörter, bei ihrer emotionslosen Funktionalität, in der prinzipiellen Sprachskepsis, wie man sie etwa von den Autoren der Wiener Gruppe her kennt. Bei ihm bleibt das Wort nicht die getrocknete Pflanze in einem Verbarium – im Gegenteil, er sorgt dafür, daß es auffliegt, sich befreit und von Zeit, psychischer wie historischer Zeit aufgeladen, wiederkehrt. In seinen Sätzen wird das Wort zum Bienenstock, in dem die Bedeutungen aus – und einfliegen wie jene pollensammelnden Fluginsekten. Damit gehört es aber auch zur Ordnung der Welt und des alltäglichen, schwer ergründbaren Lebens. Immer zittert da ein Rest an Unsicherheit fort, wenn man das Wort, wie er es tut, einerseits wörterbuchrein, andererseits magisch aufgeladen umherschickt als Sonde. Dieser Rest liegt jenseits der Sprachtheorien, er kommt vom Einzelnen her, der immer der Einzelne ist, wenn er sich einläßt auf den Zufall des nächsten Augenblicks. Er muß dazu nicht einmal Dichter sein, aber als solcher hat er es gewiß nicht leichter. Denn der Dichter ist – nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Sprache nach allem Mißbrauch durch totalitäre Ideologien, die den Menschenhaß organisierten und zu Tod und Vernichtung führten – einer, der seine Sache auf nichts mehr stellen kann. Darum hatte der Dichter H. C. Artmann recht, als er in seiner Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes erklärte: »Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. (…) Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen.«

Die poetische Handlung also ist es, was den Dichter ausmacht. Darin hat Aleš Steger es weit gebracht. Er ist ein poetisch Handelnder, dies zuallererst. Er weiß um die Lebenshaltung, die allem Dichten zugrundeliegt. Von daher konnte er sämtliche seiner Bücher planen und bis ins Einzelwort durchkonstruieren. TERROR, ZUFALL und PAPIER bilden bei ihm eine Triade der Einsicht in das Grundprinzip des Schreibprozesses. 

Es gab eine Zeit, im fernen Mittelalter, da diskutierten die Philosophen den Gegensatz zwischen Nominalismus und Realismus. Der Streit drehte sich darum, ob es Universalien, sprich allgemeine Vorstellungen gibt (die Idee von der Aprikose, vom Stachelschwein, vom Computer) oder ob all das nur arbiträre Namen sind, Bezeichnungen, die wir als Sprachteilnehmer gebrauchen, je nachdem wie sie kommen. Die Aprikose? – war immer schon da, das Stachelschwein, je nach Lebensraum und Kultur, bekannt. Was aber machen wir mit dem Computer? Ein befreundeter Maler sagte mir einmal: »Gedichte, in denen Kühlschränke vorkommen, lese ich nicht.« Interessant: Wer sprach hier, ein Realist oder ein Nominalist?

Die neuen Dinge – als Unbekannte fliegen sie auf uns zu, und wir konstruieren aus ihnen die immer neue Welt. In ihr liegt die Zeit im Streit mit der Ontologie. Der Staudamm gehört nicht zum Weltbild der Bewohner Pompejis, auch nicht das Stroboskop oder der Händetrockner – hier greift Platons Ideenlehre daneben. 

Es gibt keine zeitlose Existenz der Dinge, sie tauchen als Erfindungen auf, wenn ihre Zeit reif ist. Sagt der antike Dichter Diskus und Obelisk, sagen wir Autobahn, Maschinenpistole. Sagt der moderne Mensch Kugelschreiber, schüttelt Horaz traurig den Kopf. Zu sagen, wann und wie ein Ding in unseren Vorstellungsraum eintritt, ist keine triviale Sache.

In Stegers Gedichtband »Kaschmir« findet sich ein Sück, das über alles das klar reflektiert: Über die Realistische und die Romantische Schule. Darin heißt es: »Nachdem wir die Schneeperlen aufgelesen hatten, begannen die Geheimnisse zu tauen. Obwohl es keine Sonne gab, verwandelten sich die weißen Berge in einen reißenden Strom braunen Matsches. Wir standen am Ufer und sahen, wie es zwischen leeren Flaschen und Holzstücken auch tote Engel fortschwemmte, die bis dahin unter dem Schnee geschlafen hatten.«

Der Dichter weiß um die literarischen Schulen. Aber er vergißt es wieder, wenn er den Ort des Schreibens betritt wie zum ersten Mal. Er bewegt sich in einer Welt, die gleichermaßen natürlich wie artifiziell ist. Er ist, wie die Meister der Renaissance, ein Artifex, ein Handwerker der visuellen Künste, wenn er bewußt zu Werke geht. Vielleicht liegt es an dieser Bewußtheit, daß jedes der Bücher Aleš Stegers ein Ereignis für sich ist. Jedes eine Expedition ins Unbekannte. Es sind die Beziehungen zwischen den Dingen und ihren Namen, den Phänomenen und ihren Beschreibungen, die seinen kritischen Verstand in Gang halten, weil sie sich niemals von selber verstehen. Er ist auf der Suche nach einer lyrischen Metasprache, die das Benennen auffrischt, ihr Resultat sind phantastische Realitäten.

Seine Arbeiten folgen oft einer Generalidee, und das gilt für die Gedichte ebenso wie für die Prosaarbeiten, seine Reisebücher und erzählerischen Essays. Sie liegen, das teilt sich schnell mit, auf der Linie einer gedachten Ordnung. Da gibt es ein »Buch der Dinge«, ein »Buch der Körper«, ein »Logbuch der Gegenwart«.

Das »Buch der Dinge«, ein Gedichtzyklus in 49+1 Stücken, versammelt so verschiedene Gegenstände wie den Scheibenwischer, den Korken, die Fußmatte, die Büroklammer, den Bandwurm, den Zahnstocher oder die Schubkarre. Die Aufzählung ist rein willkürlich, aber man ahnt schon, daß auch die Auswahl des Dichters keine sonderlich systematische ist – außer, daß er dafür sorgt, Naturgegebenes – den Stein, die Ameise, die Kartoffel – ebenso zu Wort kommen zu lassen wie das von Menschen Gemachte. Hier ist kein Ordnungsfanatiker am Werk, kein pedantischer Katalogisierer, sondern ein Pionier im physikalischen Raum der Bedeutungen, den die Ästhetiken der Moderne genauso erschüttert haben wie die Relativitätstheorie unsere Vorstellungen von der Materie.

 

Kein Gegenstand ohne den historischen Sinn, der ihm innewohnt. Ein besonders drastisches Beispiel hierfür ist die »Wurst« aus seinem »Buch der Dinge«. Ein Gedicht, das man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte, so ist es gedacht. Ein Gedicht, in dem die Wörter zerplatzen wie die Wurstpelle beim gierigen Verzehr.

 

»Wurst

 

Hast du gesehen? Zweihunderttausend Frankfurter Würste

Demonstrieren für Arbeiterrechte.

 

Sechs Millionen vergaste Salami, koschere, im Zweiten Weltkrieg

Und eine Million niedergemachte feurige Würstchen vom Balkan

fünfzig Jahre danach.

 

Zugleich herrscht Sorge. Die Zahl der dicken Mortadellas wächst.

Man sollte umgehend Maßnahmen ergreifen gegen die Gonorrhö 

in der Blutwurst.

 

Und, wow, was für eine Extrawurst im Minirock.

Und jene ungarische in Pumps. Mit Steppnaht und mit Wonderbra.

 

Ein Fleischgemisch aus Lügen, Ängsten, Zaudern, Lüsten.

Doch woher kommt die Liebe, dies angsterfüllende Konzept?

 

Knurrt es in dir? Komm, schieb sie dir rein.

Zwischen Anus und Mund – der Appetit des Körpers auf Körper.

 

Bulimische Masse, gefangen im Darm der Sprache.

Verletze sie. Greif zu. Laß die Wörter zwischen deinen Zähnen 

zerplatzen.

Das ist auf eine furchterregende Weise grotesk und zugleich konkret. Etwas mulmig wird einem, wenn man bedenkt, wie hier Ernährung und Genozid, Sexismus und das Thema der Eßstörung verflochten werden. Darf Lyrik denn das? Darf sie sich solche Gedankensprünge, Motivkreuzungen erlauben? »Der Appetit des Körpers auf Körper« – in der Formel der Schlußzeile kulminiert der Schrecken vor einem Abgrund, in dem all die feinen Unterschiede hinabstürzen und gemeinsam zuschanden werden.

Denn wovon handelt das Dinggedicht »Wurst«? Vom Fressen und Gefressenwerden, vom Krieg der menschgewordenen Würste, vom Volksstaat der Wurstesser und vom Nahrungskreislauf. Von der Schlachtung von Mensch und Tier, die alle Kulturideale ins Blutige herabzieht und jeden aufgrund seiner körperlichen Verfaßtheit zum egoistischen Fresser macht, zum bloßen Zwischenglied eines Metabolismus, der die gesamte Gesellschaft hineinreißt in eine universelle Darmverschlingung. Das konkrete Denken räumt auf mit den falschen Zuschreibungen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Die Würde des Menschen hat ihre Grenze – im bewußtlosen Fressen. So kann für den Geist die Wurst zum Skandal werden, indem sie alles Schöne, Gute und Wahre besudelt. Wer aber spricht hier eigentlich? Doch wohl hoffentlich nicht der Autor?

 

Aleš Steger begibt sich, wie er sagt, in den Bauch der Wörter. Sein Credo: »Sachen schreibt man mit den Augen, Dinge mit den Ohren.« Damit ist der geregelte Grenzverkehr aufgehoben, der für das Gedichteschreiben, die sensibelste Form der Sprachreflektion bislang galt. Das Heimliche wie das Unheimliche der Dinge: Hinter unserem Rücken führen sie ihr Eigenleben, verschwören sich und zeugen am Ende gegen uns. 

Zurück bleibt eine böse Verstörung – und die Störung unserer bequemen »Ordnung der Dinge« ist der erklärte Grundsatz solcher Verse. In diesen Dinggedichten wird vor unseren Augen ein doppelter Salto vollführt. Nicht nur die Ansicht der Gegenstände, ihre fest umgrenzte Materialität, auch ihr Name gerät in Bewegung. Erprobt wird ein Flickflack, bei dem die gewohnten Verhältnisse ins Tanzen kommen, die Gegensätze das Wunder der Aufhebung erfahren: Innen und Außen, Hier und Dort, ich, du, er, sie, es werden von diesem Wortakrobaten im Handumdrehen untereinander getauscht. In den Dingen schlummern die Metamorphosen: So wird aus einem »Stuhl« ein Vierbeiner, einer unserer Vorläufer aus dem Tierreich, aus einem »Zahnstocher« ein kleiner Robespierre im Maul des Polyphem. Und ein »Stroboskop« kann die ganze Evolution noch einmal Revue passieren lassen für den, der sich auf einer Tanzfläche herumwirbeln läßt. Objekte erleben ihre Personifikation, indem sie sich in launische Subjekte verwandeln – wie der »Regenschirm«, von dem es wie über einen guten Onkel heißt:

 

»Wenn er dich bei der Hand nimmt, dreht sich die Welt.

Draußen knöpft er seinen eng gewordenen Smoking auf.«

 

Oder Subjekte finden sich plötzlich eingeschlossen, geologisiert wie in dem Gedicht »Stein«, wo es heißt:

 

»Was du in dir trägst, hört niemand.

Du, einziger Bewohner deines Steins.«

 

Dies ist keine Welt der starren Gegebenheiten, hier ist alles in einem unablässigem Wandel und auf dem Sprung, Teil eines Kreislaufs, einer Kette der Wesen. Entsprechend oft ist vom Einverleiben die Rede, von Verdauung und Stoffwechsel. Schon die Titel lassen einen Zentralkomplex vermuten: »Magen«, »Bandwurm«, »Speichel« und »Kot«. Muß man sagen, daß er damit der verborgenen Realität näherkommt als jede literarische Konvention, die sich (aus Gründen der Sozialhygiene) lieber an die Oberflächen hält? Stegers Gedichte schauen hinein in die Eingeweide, sie interessieren sich für die Entwicklungsstadien. »Ich versuche mir die Zellteilung vorzustellen, das Wachsen, die einzelnen Phasen, in denen sich aus Gameten Organe bilden, Augen, beide Hände, Finger… Was für ein Gebot bringt ein paar Zellen zum regelmäßigen Pulsieren? Was für Möglichkeiten verbergen die Teilchen, die meine Sprache als vernachlässigbare bezeichnet? Ist nicht jedes diakritische Zeichen, jedes Staubteil, jeder noch so flüchtige Gedanke ein potentielles Fötusherz?«, fragt er im »Buch der Körper«. Also etwa auch das Häkchen über dem s im Vornamen des Dichters (das im Slowenischen strešica heißt). Das Häkchen wird zum Indiz für die Unterschiede in ein und derselben Sache, es markiert die Vielfalt der Möglichkeiten, es steht für »Tendenz, Latenz, Utopie« jeder Erscheinung, um mit Ernst Bloch zu sprechen. Kein Gegenstand, tot oder lebendig, ist so geringfügig, daß er nicht den Keim zu etwas anderen in sich tragen könnte. So wird über das Frühstücksei einmal gesagt:

 

»Sieht es die Zeit, die teilnahmslos umherzieht?

Schlitz, Schlitz, zerplatzte Schalen, Chaos oder Ordnung?

 

Große Fragen für ein kleines Ei zu so früher Stunde.

Und du – wünschst du dir wirklich die Antwort?«

 

Dichter wird vielleicht auch, wer unbeantwortbare Fragen stellt. Sein Metier ist, jenseits aller immanenten Rhetorik, die Aporie. Das Fragezeichen regelt den Verkehr auf der Kreuzung der Existenzprobleme. Aleš Steger weiß um die Frage-Antwort-Spiele der Poesie, auch daß sie oft in der Luft hängenbleiben. »Ist es eine Begegnung, wenn uns ein Gedicht aufstöbert?«, fragt er.

 

Antwort: Schon möglich. Das Gedicht ist ein Ferngespräch, plötzlich und unangemeldet. Es verbindet uns mit einer Stimme jenseits der eigenen Nöte.

Im Jahre 1933 starteten die Surrealisten André Breton und Paul Eluard eine Rundfrage, deren Ergebnisse in der Zeitschrift Minotaure, dem Hausorgan der Künstlergruppe, abgedruckt wurden. »Können Sie angeben, welches die wichtigste Begegnung Ihres Lebens war? – Bis zu welchem Grad hatten Sie und haben Sie auch jetzt noch den Eindruck, daß in dieser Begegnung etwas Zufälliges oder etwas Notwendiges lag?«

Hier sind wir inmitten der Zone, von der das Schreiben Aleš Stegers seinen Ausgangspunkt nimmt. Die DNA seiner Gedichte und Prosastücke zeigt auffällige Mutationen. Es gibt die scharf eingeprägten Momente. Ob ein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft dazugehört, mag offenbleiben. Aber ganz sicher der Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung Jugoslawiens und der nachfolgende »Balkankrieg«, aus dem das kleine Slowenien ziemlich bald und fast unversehrt hervorging, in voller Souveränität auf dem Weg ins neue Europa. Aleš Steger hat dieses Neuland eines Tages für sich erobert, indem er seine Außengrenzen in einer Fußwanderung abschritt. Es gibt einen Dokumentarfilm darüber, der sich auf seine Aufzeichnungen stützt: »Beyond Boundaries«, eine philosophische Reise.

Eine der am deutlichsten erkennbaren Mutationen ist jene von den Strahlungen des Surrealismus ausgelöste. Sie geht einher mit Einbrüchen in die traditionelle Bildlogik, mit Motiven der Exotik, synästhetischen Kapriolen, Erzählformen der Paradoxie, ungewöhnlichen Satzbauten. Unter seinen Anregern sind auffallend viele spanischsprachige Dichter. García Lorca wird ausdrücklich genannt, César Valejo, Octavio Paz. Spanisch ist ihm als Sprache geläufig, Südamerika der Kontinent, den er auf seinen Wanderungen am intensivsten durchquert hat. Zehn Jahre Reisen durch Lateinamerika, »»alles außer Paraguay«, wie er selbst sagt. »Manchmal ist Januar mitten im Sommer« heißt das Buch einer Reise durch Peru auf den Spuren César Vallejos, 1988 erschienen.

Auch sonst sind die Hinweise vielfach gestreut. Etwa hier: »Dies ist mein unablegbares Gepäck. Lorcas Gedicht aus Ein Dichter in New York. Ein Dichter verliert sich in einer Menschenmenge, die sich auf Coney Island übergibt. Das Kotzen rettet vor den Toten, die aus den Sümpfen aufsteigen und der Stadt drohen. Die Lebenden erbrechen die Namen der Toten. Die Sprache wird keinen der Kotzenden retten, doch es bewahrt sie vor dem Verschmelzen beider Welten.« (»Dort«, S. 55)

Wieder ist es der körperliche Vorgang, der ihn vor allem fesselt, ein Brechreiz am Rande der Sprache. Hier schreibt einer, der um die vielen Verbindungswege der Imagination weiß. Nicht zufällig treibt es ihn in die Museen und in die Archive, wo die menschlichen Relikte auf ihre Wiederbelebung warten. »Ich las Bücher über die Architektur des Reifs«, heißt es einmal, »durchstöberte große Atlanten der Wünsche Bedecktsamer, kleine Heftchen mit Beiträgen zur Metallurgie ausgestorbener Sprachen, verstaubte Schriftrollen über die Genetik des Ostwinds, zweideutige Traktate über die Theosophie der Tannen, über die Kosmologie des Schmerzes.«

Ein persönlicher Bilderatlas hat sich so angehäuft – und immer wenn die Fülle der Bilder und Assoziationen untragbar zu werden droht – unverdaubar für einen einzigen Magen – bleibt ihm nur die Ellipse, die überraschende Volte, um abzuschütteln, was den Körper bedrückt.

Mitten in einen Reisebericht platzt das Gedicht hinein, mitten in einem Lyrikband meldet sich die Erzählerstimme. 

»Im hintersten Raum des Naturwissenschaftlichen Museums von Göteborg ist der einzige ausgestopfte Blauwal der Welt zu sehen. Neben dem Wal ist ein Skelett separat ausgestellt. In alten Zeiten war im Innern des Wals ein Café geöffnet. Es wurde geschlossen, als man im Rumpf auf ein entkleidetes Paar stieß.« (»Dort«, S. 60)

 

Jona im Bauch des Wals, scheint mir, ist der Schutzheilige dieses umtriebigen Slowenen. Die biblische Figur geistert durch viele seiner Gedichte. Sie begegnet ihm an den unmöglichsten Orten – zum Beispiel in einem Pissoir, in der peinlichen Stille, wenn die zum Urinieren aufgestellten Männer (ein Erschießungskommando?) die Wand anstarren, um jeden Blickkontakt zum Nebenmann zu vermeiden. Ausgerechnet dort kommt ihm Jona entgegen. 

 

»Erscheint auf den Gesichtern der Männer, die dort urinieren,

Jonas Antlitz, eingeklemmt in den Rippen?

Was heißt das hier, und was ist das dort?

 

Wie klingt die menschliche Stimme drüben, auf der anderen

  Seite des Pissoirs?«

 

Der Mann aus dem Alten Testament läßt ihn nicht los; zum Denkbild wird er ihm, wenn es im Prosagedicht heißt: »Ich lese den Satz “Jemand sagt Wörter aus dem Bauch heraus“. Ich verstehe das hier Gelesene wortwörtlich: Jemand spricht aus dem Bauch des Wortes, das seinen Sprecher aufgefressen hat. Der Hinuntergeschluckte steckt im Bauch des Wortes, das er zugleich aussagt. Innen und Außen sind verrückt.« (»Dort«)

In solchen Momenten scheint der Dichter ganz bei sich zu sein. Im Innersten, von wo aus das Außen, die Welt mit ihren wechselnden Panoramen, Politiken, Problemen, sich vielleicht auf den Punkt bringen ließe. In dieser Körperhöhle, durch die Meere der blinden Anschauung gleitend, betet er um die richtigen Worte wie der Mann im Buch Jona. Das war einer, den Gott mit einem Auftrag gen Osten schickte, nach Ninive – er aber nimmt ein Schiff in die entgegensetzte Richtung, nach Jaffa, und will weiter an einen Ort jenseits von Gibraltar. Für seinen Eigensinn muß er büßen, er wird über Bord gespült, verschlungen von einem großen Fisch. Staunend erfährt man, daß es im Mittelmeer seinerzeit Wale gab. In seiner schwimmenden Höhle überlebt Jona, im Gebet findet er die richtigen Worte und wird wieder an Land gespuckt, eine zweite Geburt. »Das Geheimnis ist die Geburt«, sagt Steger im »Buch der Körper«. Für den modernen Dichter kann der Bauch des Wals ein Café sein, der Lesesaal einer Bibliothek, ein U-Bahn-Waggon, der unter den Straßen von Paris, Berlin oder New York dahinrauscht, am Flughafen ein Gate im Dämmerlicht. Aleš Steger hat viel Zeit auf Flughäfen verbracht, er ist ein Dichter auf permamenter Wanderschaft. »Meine Leute waren eher statisch«, sagt er als einer, der aus der Familienart schlägt wie fast alle Dichter. Vermutlich träumt er davon, im Bauch des Wals durch die Städte und Länder, die Weltmeere getragen zu werden. Ein Terminkalender seiner Reisen der letzten zehn Jahre würde zeigen, wie global der Mann operiert: der Lyriker als Agent der Globalisierung. Er habe alles auf Reisen verdiente Geld sofort wieder in Reisen investiert, sagt er.

Ich bin ihm schon an den unmöglichsten Orten begegnet. Oder bilde ich mir das nur ein? Bei unseren Treffen muß ich mich immer versichern, ob er es ist und nicht einer seiner freundlichen Doppelgänger. Es treibt ihn nach Fukushima, an den Ort der Reaktorkatastrophe, oder nach Mexico City in eine Demonstration für die 43 ermordeten Studenten der Hochschule von Ayotzinapa, nach Kochi an der Malabarküste Indiens, oder an den zentralen Busbahnhof von Belgrad, wo die Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsgebieten Syriens und Afghanistans auf ihrer Landroute ins gelobte Nordeuropa eine Schlafpause einlegen. Und immer ist er pünktlich mit seinem Lächeln vor Ort, dem Lächeln eines Menschen, der sich auf seine Umwelt einläßt, einer von vielen, ganz Auge und Hand – das mitfühlende Betrachterauge und die Hand, zum Schreiben bereit, Mr. Walt Whitman, konzentriert auf die Mitmenschen in einer Zeit der unaufhörlichen Migration. »Ich lerne sehen.«

Das »Atlas-Projekt«, ein Logbuch der Reisen an die Brennpunkte unserer Gegenwart, ist das jüngste seiner Projekte. Zwölf Stunden Zeit gibt sich der rasende Lyrik-Reporter, um seine Eindrücke festzuhalten. Er reist den Schauplätzen und Schicksalen entgegen. Gelingt das, erscheint der Körper des Zeitgenossen in seiner Dünnhäutigkeit, Durchlässigkeit. Er wird vollkommen gläsern, frei nach Baudelaire zeigt in der Schrift sich sein entblößtes Herz, mon coeur mis a nu. Und ich sehe den Weggefährten in der Ferne, den jungen Europäer, Vertreter einer neuen Spezies, geprägt von globaler Einsamkeit. 

»Dieses Gedicht braucht keinen Leser«, schrieb neulich ein polnischer Lyriker in einem Gedicht. Brauchen Aleš Stegers Gedichte einen Leser? Die Frage ist nicht mehr nur eine rhetorische, seit das Verhältnis von Gedichteschreiber und Leser so prekär ist wie in unserer Zeit. Eigentlich ist es gar kein Verhältnis mehr, eher ein anonymes Treffen, die Begegnung in einem Stundenhotel zwischen zwei Zeilen.

Ich möchte einen Dichter feiern, dessen Arbeiten mich wie wenige seiner Generation seit langem erleuchten. Aleš Steger hat die europäische Dichtung unserer Zeit schon in jungen Jahren um ein paar neue Modelle bereichert. Und das ist viel, das ist mehr als wir gerade erwarten dürfen. Heute ist der 7. Dezember: Herzlichen Glückwunsch zum »Tag der internationalen Zivilluftfahrt«. 

November 2016