Péter Nádas Foreword to Written on Site (in German), 2016

Péter Nádas

Die Nachricht

von der Katastrophe

 

Die erzählende Dichtung des Aleš Šteger

 

Alles, was kaputtgehen kann, geht auch kaputt. Zum Begreifen dieser

Weisheit ist kein besonders scharfer Verstand nötig, es genügt

die Erfahrung des Alltags. Wir arbeiten mit technischen Geräten,

deren Funktionsweise wir nicht kennen, notwendigerweise werfen

wir die kaputten weg und kaufen stattdessen bessere, andere.

Dieses Prinzip definiert unsere Sicht der Welt. Das Prinzip der

Allmacht des Kaufens. Die Auswirkungen und Defekte größerer

Systeme verursachen dann einen richtigen Kurzschluss in unserem

Denken. Kein Wunder. Ausgetrocknete Flussbette und plötzliche

Überflutungen kann man nicht wegwerfen, man kann nicht

einmal mit ihnen rechnen.

Auch wir, eine Frau und ein Mann, arbeiteten unter dem wolkenlos

blauen Aprilhimmel, mit der Heugabel wendeten wir das

gemähte Gras, damit gutes, trockenes Heu daraus entstand, das

der Nachbar für seine Kuh holen würde. Doch wie sollte er es

seiner Kuh geben, wenn nicht nur sämtliche Halme unseres Grases,

sondern jeder einzelne Halm von jedermanns Gras, vom Baltischen

Meer bis zu den Bergen des Balkans, radioaktiv verseucht

war. Oder was sollten wir mit dem besonders früh und üppig gedeihenden

Spinat anfangen. Sollten wir ihn ernten, blanchieren,

kühlen, portionieren und in die Tiefkühltruhe geben, wie wir es

in früheren Jahren getan hatten? Die Strahlung ist nicht wahrnehmbar.

Oder sollten wir das Ganze abschneiden und es auf den

sorgfältig gepflegten und deswegen reichlich mit Würmern durchsetzten

Komposter werfen, der infolge der Explosion von Tschernobyl

ebenso kontaminiert war, wie unser Gras und unser Haar.

Die Katastrophe unterscheidet sich dadurch von allen anderen

Situationen des Lebens, dass sie sich persönlich an dich wendet, es

gibt kein Schlupfloch, ihren klaren Fragen zu entkommen, es gibt

keinen Aufschub, und nicht nur du weißt keine Antwort auf sie,

niemand weiß eine. Und Gott ist, wie allgemein bekannt, schweigsam.

Du kannst nicht sagen, es fällt zwar radioaktiver Regen, doch

morgen wird er aufgehört haben. Du kannst nicht sagen, es brennt

zwar die Sonne der globalen Erwärmung nieder und lässt vor deinen

Augen die Flussbette austrocknen und das Getreide verdorren,

doch dann oder dann wird es regnen. Unter dem Gewicht der Katastrophe

bricht als Erstes das universale menschliche Prinzip

der Hoffnung in sich zusammen. Es gibt nichts, weswegen, und

nichts, worüber man sprechen könnte, wenn man keinen Unsinn

reden will. Inmitten der Katastrophe kann der Verstand immerhin

noch erfassen, dass das Wort bis dahin ausschließlich vom Prinzip

Hoffnung genährt wurde und es nun kein Weiter gibt. Es ist zu

spät. Man kann nicht jeden bis dahin von der Menschheit ausgesprochenen

Satz nachträglich abändern oder korrigieren. Die Erkenntnis,

dass wir auch das Prinzip Hoffnung missbraucht haben,

kommt spät. Ich würde vielleicht sogar sagen, wir haben auch das

biblische Gebot der Vermehrung missbraucht.

Das Dichterwort vermag zuweilen doch ein wenig mehr, es kann

weiter gehen, und lässt sich selbst dann vernehmen, wenn andere

nichts Vernünftiges zu sagen, ja nicht einmal Wasser, nicht einmal

Luft zum Atmen haben. Aleš Šteger ist ein Meister der unmöglichen

poetischen Äußerung. Seine Vorsicht, seine Behutsamkeit,

seine Umsicht hat er höchstwahrscheinlich von den Göttern bekommen,

die ihm zudem ein schönes Lächeln geschenkt haben.

Ich möchte hinzufügen, dass er das alles nicht von den römischen,

sondern von den byzantinischen Göttern bekommen hat.

Denn es ist in meinem als Zugabe erhaltenen Leben nach Tschernobyl

kaum ein Vierteljahrhundert vergangen, als ich in einer Liveübertragung

mitansehen musste, wie eine wunderschön gealterte

japanische Gärtnerin auf den Knien rutschend aus ihren Spinatbeeten

die größten Blätter einzeln herauszupft, damit die kleineren

noch wachsen können. Sie arbeitet unerschütterlich, inmitten

einer üppigen Spinatpflanzung. Gleichwohl werden ihre vom fachlichen

Standpunkt perfekten Bewegungen nicht mehr vom Prinzip

Hoffnung, sondern vom Mangel einer Alternative in Gang gehalten.

Wider alle Vernunft gehorcht sie ihrer Disziplin. In ihrer

unmittelbaren Umgebung ist der Behälter bei etwa 2800˚ Celsius

durchgebrannt, es ist eingetreten, was eintreten konnte. Die vollständige

Kernschmelze in drei Atomreaktoren. Es folgen die drei

Explosionen. Regen fällt. Der Spinat muss geerntet werden. Sie

hat einen Regenmantel gekauft.

Auch inmitten einer Katastrophe macht es keinen Sinn, die Katastrophe

auszurufen. Šteger schlägt nur leise Töne an. Dabei weiß

er, was die japanische Gärtnerin weiß und was wir alle wissen. Das

urzeitliche Verhaltensprinzip des sinnvollen Schweigens hat, wie

auch die lautstarke Prophezeiung, heutzutage zwar jeden Sinn

verloren, beides funktioniert dennoch als Prinzip des Handelns.

Er handelt so, wie die uralte Japanerin an diesem regnerischen

Märzmorgen unter dem schwerst kontaminierten Himmel von

Fukushima. Er sieht, was sie sieht, er sieht, was wir sehen, und er

gehorcht dem Gebot seiner Profession. Höchstens sagt er trotzig

zu sich selbst, er werde in seinem abgeschlossenen Zimmer sicher

keine Gedichte mehr schreiben. Ein Entschluss würdig eines bedeutenden

Philosophen. Ein wenig erinnert er an Diogenes von

Sinope, der auch rasend gewordener Sokrates genannt worden

ist, weil er im Namen der Prinzipien der Natur gesellschaftliche

Konventionen aufs Korn nahm. Ich bleibe nicht in meinem Zimmer

und gehe los, um die Grenzen meines Geburtshauses abzuschreiten.

Allerdings haben Grenzen im Himmel und auf Erden

alle ihre früheren Funktionen verloren. Es gibt keine Gewalt, keinen

Stacheldraht, keine Armee, die sie schützen würden. Von da

an schreibe nicht mehr ich meine Gedichte, mein Weg schreibt

sie. Mein Ich ist nicht mehr und nicht weniger als die Außenwelt.

Ich soll ein verlorener Handschuh werden, weil es auf dem Weg

verlorene Handschuhe erblickt. Auch seine Stilistik folgt schließlich

dem Prinzip des Handschuhs, sie wird zwischen Erzählung

und Gedicht oszillieren, er wandelt sie ineinander um, auf diese

Weise reist er nicht nur im Raum, sondern öffnet sich einen eigenen

Weg zwischen den beiden großen literarischen Gattungen.

Auch in seinen Gedichten ist Aleš Šteger ein Erzähler, der auch

dann Lyriker bleibt, wenn er Prosa schreibt, und nicht deshalb,

weil diese Prosa rhythmisch ist. Mit der Umwandlung gewinnt

er Klarheit über einen geheimnisvollen Unterschied. Es ist ein

höchst bemerkenswerter Umstand, dass er es gerade zu der Zeit

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tut, als sein ungarischer Dichterkollege János Térey auf ganz ähnliche

Weise die Gedichtsprache hinter sich lässt und sich auf eine

Prosa verlegt, die durch und durch Lyrik bleibt. Natürlich haben

beide ihre Vorgänger im zweiten und dritten Jahrzehnt des vergangenen

Jahrhunderts, unter den polnischen, tschechischen und

russischen Katastrophisten, die angesichts der neuerlich nahenden

Katastrophe unzufrieden mit den westlichen Avantgardebewegungen,

dem Futurismus, dem Dadaismus und dem Surrealismus

sind und nicht allein auf dem Individuellen, sondern auch

auf dem anthropologisch Gemeinsamen aufbauen.

Šteger ist auf dem grenzüberschreitenden Fußweg auch zu uns

gekommen, schon allein deshalb, weil wir wirklich nicht weit von

der Grenze seines Heimatlandes wohnen. Matthias Göritz, sein

deutscher Übersetzer, schreibt über ihn: „Wer ihn lesen hört und

mit ihm spricht, ist von seinem Charme eingenommen, einem

unverwechselbaren Charme, der sich auch in seinen Gedichten

findet.“ Nie habe ich ihn deutlicher in seiner leiblichen Wirklichkeit

erlebt, als nach diesem Fußmarsch, wie er dastand und wartete,

dass ich das Gartentor öffne. Sein urbaner Charme, wie ich

ihn aus Paris, Berlin und Ljubljana von früher gut kannte, war

verschwunden, hatte sich verflüchtigt. Vom langen Fußmarsch

war er so stark und sonnengegerbt, wie seine Ahnen gewesen sein

mochten, aller Wahrscheinlichkeit nach Hirten im Gebirge, an die

er vielleicht selbst keine Erinnerung hat. Er brachte sie mit seiner

leiblichen Wirklichkeit mit, dergestalt waren die Unbekannten

mitmarschiert. In den Großstädten der Welt kommt man ohne

Lächeln nicht aus, nun aber lächelte er kaum, sein Lächeln leuchtete

eher aus der Tiefe seiner Aufmerksamkeit.

Oder er setzt sich auf einem bedeutenderen Platz seiner Stadt

ins Schaufenster eines Kaufhauses, um inmitten der Katastrophe

nicht mit seinem Gedicht allein zu sein, damit Individuum und

Umgebung sich gegenseitig durchdringen, um Gemeinsamkeit zu

schaffen. Dort werde ich schreiben, sagt er, im Schaufenster, was

wahrlich dem Akt eines Diogenes gleichkommt. Wenn es nun mal

keinen Unterschied zwischen innen und außen mehr gibt, keinen

geben kann, wenn es keine Grenze gibt, wenn wir nun mal nach

außen und nach innen gekehrt, ineinander umgewandelt werden

können, wenn das Universelle und das Individuelle sich im Moment

der Katastrophe berühren und aneinander festbrennen, dann

soll ihre Gemeinsamkeit doch endlich auch im Gedicht keine zwei

getrennten Phänomene bilden. Ein Gedicht soll sich von meiner

Haut nicht unterscheiden. Oder er lässt diese nicht wahrnehmbaren

Signale auch durch seine Haut hindurch und fährt geradewegs

nach Fukushima. Und wenn er Kunde davon erhält, dass in

der mexikanischen Provinz Guerrero Polizisten und maskierte

Banditen gemeinsam einen Autobus mit Studenten angegriffen,

sechs Studenten erschossen und dreiundvierzig an einen unbekannten

Ort verschleppt haben, um sie dort umzubringen und die

Leichen vermutlich auf einer Mülldeponie zu verbrennen, dann

fährt er in das vom globalen Drogenhandel, von der Armut, der lokalen

Korruption und dem weltumspannenden politischen Banditentum

zugrunde gerichtete, bis zum heutigen Tag an den Folgen

des Kolonialismus leidende Mexiko, um mit ihnen zusammen zu

sein, mit den Lebenden, den Hilfebedürftigen, den ins Elend Gestürzten,

um uns inmitten einer Massendemonstration etwas zuzurufen,

persönlich, uns allen. Šteger ist kein Katastrophentourist,

kein Lustreisender, mit Sicherheit kein Flaneur, kein Globetrotter,

alles andere als das. Ich würde ihn eher einen einsamen, ein

wenig verrückten Pilger nennen, der für Sünden büßt, die zu begehen

er mit aller Kraft und unter allen Umständen zu vermeiden

sucht. Und wenn sich aus dem in der Tat vollständig ausgeplünderten

und sämtlicher Naturschätze beraubten, aufgeplatzten Afrika

und dem in Bruderkriege gestürzten, genauer gesagt vom globalen

Waffenhandel verheerten Asien ein Strom von Vertriebenen,

eine Völkerwanderung in Bewegung setzt, dann fährt er ihr nach

Belgrad entgegen, setzt sich am Busbahnhof auf eine Bank, kauft

Milch und Bonbons für die Kinder, und unterhält sich mit ihnen,

so gut es geht. Er gewinnt auch einen Freund, Ejmen, sie schreiben

einander ihre Namen auf ein Stück Papier.