Steger zeyringer interview for literatur und kritik april 2010

Das Zuflüstern der Dinge und die poetischen Überschneidungen

Mit Aleš Šteger sprach Klaus Zeyringer beim Literaturfestival im schweizerischen Leukerbad

 

Aleš Šteger ist ein Sprachreisender, dessen Texte leichtfüßig sind und zugleich auch abseits begangener Wege führen. Er stammt aus dem slowenischen Ptuj (seinerzeit in der Untersteiermark zu Deutsch: Pettau), hat in Ljubljana Germanistik und Komparatistik studiert, ist intensiv im internationalen Literaturbetrieb präsent, zehn Jahre lang als spiritus rector des Lyrikfestivals „Poesie und Wein“, das er initiiert hat und das Ende August 2010 diesmal in Ptuj über die Bühnen geht. 

Sein Buch der Dinge ist auf Deutsch 2006 bei Suhrkamp erschienen, es ist eine lyrische Phänomenologie der Dinge voller origineller Einfälle, voller überraschender Motivverknüpfungen und kleiner grotesker Bildverkettungen. In jenen in den Gedichten beschriebenen Gegenständen – so unterschiedlich sie sind, das reicht von den Nahrungsmitteln bis zum hygienischen Zubehör, von den Tieren zu den Medikamenten – sind vielfältige dramatische Geschichten verkapselt, im Kleinen und im Existenziellen.

Preußenpark kam in Slowenien 2007 heraus, 2009 in der Edition Suhrkamp. Diese Berliner Skizzen, so der Untertitel, gehen auf einen DAAD-Aufenthalt in Berlin 2005/06 zurück und bieten ein poetisches Flanieren, bei dem Aleš Šteger Eigenheiten und Fremdheiten wahrnimmt.

 

Zeyringer: Im Programmheft des Literaturfestivals Leukerbad steht über den slowenischen Dichter Aleš Šteger nach einem Ausspruch von Peter Handke, er komme aus einer „zauberischen Ursprungswelt“.

 

Šteger: Bfffho…

 

Z: Auf diese „Ursprungswelt“ sehe ich meinerseits, über die Jahre, hinein – ich komme aus der Oststeiermark, von der andere Seite dieser Grenze nach Slowenien.

 

Šteger: Also von der anderen Seite des Ursprungs?

 

Z: Wie ist das mit der „zauberischen Ursprungswelt“ (ohne dass wir nun über Handke zu diskutieren beginnen)?

 

Šteger: Dieser Ausdruck stimmt natürlich absolut nicht. Ich habe eine primäre Abneigung gegen Ursprungswelten-Artikulationsarten. Es ist eine Vernebelung oder, meistens jedenfalls, eine Strategie, die dem Schriftstellerischen gegenüber negativ ist. Sie kann wohl faszinieren, sie ist oft sehr kommunikativ, da es leicht ist, sich mit sehr simplifizierten linearen Herkunftsmythen zu identifizieren, es ist aber im Endeffekt verklärerisch und in gewissen historischen Kontexten gefährlich. Denken wir an die Serben in den Achtzigern und Neunzigern. Kosovo war für die Milošević-Ideologie die serbische Ursprungswelt schlechthin. Für die Slowenen wäre es nicht schwierig, Kärnten dazu machen.

 

Z: Diese Ursprungswelt ist also für dich im besten Fall ein Ausgangspunkt für die literarischen Kreise, die du sehr weit ziehst.

 

Šteger: Vielleicht sollten wir das klären: was verstehst du unter „Ursprungswelt“?

 

Z: Das Zitat im Programmheft stammt von Peter Handke und steht dort unter dem Namen „Aleš Šteger“. Für mich bedeutet es sicher etwas anderes als für Handke, nämlich ganz unmystisch Herkunftsland, also Land oder Landstrich, aus dem man kommt und wohin man vielleicht wieder zurück geht.

 

Šteger: Für mich hat dieses Wort etwas Mystifizierendes in sich. So sehe ich Orte überhaupt nicht: Als einen Ursprung, zu dem man wiederkehrt, auf den man sich immer bezieht. Natürlich, es ist ein Faktum, ich bin in Ptuj aufgewachsen, ich gehe gern dahin zurück, in diesen Ort in der slowenischen Steiermark. Aber wie jeder Ort bringt er eine ganze Palette verschiedener Traumata mit sich, und darüber zu sprechen, ist viel dringender als eine Art Ursprungsmystizismus zu betreiben.

 

Z: Welches sind diese Traumata?

 

Šteger: Slowenien ist ja ein sehr junges Land, das durch nationale Bestrebungen im 19. und 20. Jahrhundert zu dem geworden ist, was es heute ist. Das Gebiet, aus dem ich komme, war eigentlich zweisprachig, die Städter sprachen am Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend deutsch, die Umgebung war slowenisch, und das hat sich im 20. Jahrhundert radikal verändert. Damit sind nicht nur diese ethnischen Verschiebungen mit Traumata versehen, sondern eigentlich auch Verschiebungen im Gewissen eines durchschnittlichen Slowenen, wie er zum Slowenen wurde. Das hat sehr viel mit Verklärung zu tun und mit vielen Versuchen, die Geschichte neu zu erzählen und es wieder mal nur auf eine gewisse Art zu erzählen, und das bringt Traumata mit sich. Meine literarische Generation – das ist die Generation, die Anfang der neunziger Jahre sofort nach der Selbständigkeit des Staates hervorgetreten ist – wird als junge, flexible Generation angesehen und ist doch noch immer gebrandmarkt durch Ereignisse, die vor, im und vor allem sofort nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen sind.

 

Z: Die Zeichen sind ja noch erkennbar. In Ptuj gibt es ein Gasthaus, in dem die Bilder des slowenischen Radfahrerclubs hängen – und auch ein paar, die offensichtlich vom deutschen Radfahrerclub stammen. Das Slowenische und das Deutsche, das sich in der Zeit vor 1918 und danach auseinander dividiert hat, das ist noch deutlich sichtbar.

 

Šteger: Das stimmt. Auch deutschsprachige Autoren, die in Ptuj gewirkt haben, werden in der slowenischen Rezeption heute nicht wahrgenommen. Aber, wenn wir schon über Ptuj sprechen: Mit dieser Stadt sind nicht nur diese zwei Geschichten verbunden, sondern in der zweitausendjährigen Geschichte gab es auch andere Ethnien – im 14. Jahrhundert etwa lebten hier viele italienische Kaufleute, später tschechische Musiker und Ingenieure. Es war eine Grenzstadt, man hat Handel getrieben, nach Venedig wurde Vieh exportiert, von dort über Ptuj Seide nach Ungarn geführt. Und wenn wir schon über Mystizismuss geredet haben: bei Ptuj ist auch der Ort Grandin, wo Parzifal zur Erkenntnis kommt, daß er falsch gehandelt hat.

 

Z: Bei Ptuj befindet sich auch ein Massengrab aus der Tito-Zeit.

 

Šteger: Ja. Massengräber tauchen in Slowenien immer wieder auf. Die zahlreichsten sind im Süden, in der Gottschee. Man kann eigentlich Slowenien als großes Massengrab ansehen, es ist das Land, in dem nach dem Terror der Nazis und der italienischen Faschisten extrem viele Eliminierungen von Tito-Gegnern oder auch potentiellen Gegnern stattfanden, es ist nicht nur die Geschichte der 12 000 ermordeten Domobranzen, sondern auch die von ermordeten Serben, Kroaten, Roma und Angehörigen anderer exjugoslawischer Ethnien, die hier auf der Flucht in den Westen tragisch verschwanden. In den letzten Jahren baut Slowenien Autobahnen und stößt überall auf Massengräber. Und langsam fühlen sich die Überlebenden, die über ein halbes Jahrhundert in Furcht geschwiegen haben, sicher genug, um über geheimgehaltene Greueltaten offen zu sprechen. 

 

Z: Du bist Dichter – inwiefern haben diese gerade besprochenen Themen, diese Vergangenheit, diese Zeichen in der Gegenwart Auswirkungen auf deine Literatur?

 

Šteger: Natürlich hat es eine Auswirkung. Ich hüte mich aber davor, es zu einem direkten Thema zu machen. Einerseits sagt man sich, es sei ein Schlüsselthema, das sich einem regelrecht aufdrängt, andererseits scheint es mir für jemand aus meiner Generation zu einfach, dieses Thema direkt aufzugreifen. Ich habe irgendwie eine innere Abneigung, es direkt zu thematisieren, aber indirekt findet es Eingang in meine Arbeit.

 

Z: Das möge also die Generation von Drago Jančar machen, der dazu unter anderem den hochinteressanten Essayband Brioni veröffentlicht hat?

 

Šteger: Das hat eben diese Generation der heute über Sechzigjährigen gemacht, auch Ältere und Jüngere, die Palette reicht von Pachor, der im Interview mit dem fantastischen slowenischen Dichter Edvard Kocbek 1975 überhaupt erstmals öffentlich über die Massenermordungen gesprochen hat, bis heute. Die Frage ist freilich, wie man an das Thema herangeht und ob man bei sich das Gefühl haben kann, dass man für sich etwas stiftet.

 

Z: Deine beiden zuletzt auf Deutsch veröffentlichten Werke, das Buch der Dinge und die Berlinskizzen Preußenpark, haben zunächst, dem ersten Anschein nach, mit Slowenien nicht direkt zu tun. Im Buch der Dinge spielt allerdings die slowenische Mythologie eine Rolle und das Motto „Nicht für jedes Ding gibt es ein Wort“ kommt aus dem Großen Wörterbuch der slowenischen Sprache.

 

Šteger: Dennoch: Es ist schwierig. Literatur ist durch die Sprache so sehr an das Nationale gebunden, und mir geht das meistens sehr auf die Nerven. Man wird schnell als Repräsentant des  ganzen Volkes angesehen. Wenn man aus einem kleinen Staat kommt, wird man sofort zum Kulturminister oder wenigstens zum Kulturbotschafter und dann muß man die Geschichte oder Geographisches erklären, obwohl man eigentlich nur über Literatur sprechen möchte … Einmal war ich in Costa Rica und hatte eine Lesung in einer Schule. Als ich reinkam, mußten alle Kinder aufstehen und es wurde die slowenische Nationalhymne gespielt. Es war natürlich nicht die slowenische – die dort dachten, das sei sie –, es war die slowakische. Dann fingen wir mit den Grundkenntnissen an, mir wurde eine Weltkarte hingehalten, ich sollte zeigen, wo Slowenien liegt, dann ausführen, wieviele Einwohner es hat, wieviele Menschen Slowenisch sprechen. Für die Kinder mag es interessant sein, für den Autor ist es bizarr.

 

Z: Matthias Göritz, der Übersetzer des Buch der Dinge – und da du ja selbst auch Übersetzer bist, kennst du die Schwierigkeit des Unterfangens –, meint im Nachwort, dass es insbesondere in den slawischen Sprachen zwischen dem Ding und dem Wort geheime Verbindungen gebe.

 

Šteger: Diese Verbindungen gibt es in vielen Sprachen, auch im Deutschen. Matthias wollte sich wohl darauf beziehen, dass das Slowenische den Unterschied zwischen Ding und Sache macht, allerdings semantisch etwas anders besetzt als das Deutsche: Wir haben „reč“ und „stvar“, und das Buch der Dinge heißt „Knjiga reči“. „reč“ kommt vom Sprechen, vom Aussagen – und das ist der Bezug. Hingegen kommt „stvar“ vom Schöpfer, vom „stvaritelj“. Ich verstehe einen Autor von literarischen Werken nicht als einen Schöpfer, sondern als jemanden, der versucht mit Worten umzugehen. Schöpfen oder sprechen, das ist ein großer Unterschied.

 

Z: Du bist ein Untertreibungskünstler.

 

Šteger: Ich geb mir Mühe, aber es ist sehr schwierig, weil es im Deutschen – besonders für die Schweizer trifft das wohl zu – Meister der Untertreibung und des Understatement gibt.

 

Z: Auf dem Buchrücken steht „Sachen schreibt man mit den Augen, Dinge mit den Ohren“. Es besteht also offenbar eine genaue Unterscheidung zwischen „Sachen“ und „Dingen“.

 

Šteger: In diesem Buch unternehme ich einen Versuch, mich nicht als Schöpfer oder auch als Manipulator der Dinge hinzustellen (und mit den Dingen: als Manipulator der Worte), nicht im Schöpferischen einen dem kapitalistischen Glauben verwandten Prozess anzusteuern, sondern mich so weit wie möglich zurückzuziehen und zu lauschen, wie die Dinge jemanden ansprechen, was für Tonarten, was für wilde Einfälle die Dinge einem zuflüstern. Natürlich ist es ein großes Wagnis, das im Endeffekt nicht gut ausgehen kann. Allerdings war es, wenigstens von der Einstellung her, für mich eine Entdeckungsreise des Hörens und Zuhörens.

 

Z: Die Ordnung und auch Unordnung der Dinge hast du in eine bestimmte literarische Ordnung gestellt.

 

Šteger: Die ganze Zeit stand eine Schöpfungsgeschichte im Hintergrund. Aber so, wie wenn ich aufgefordert werde, über große nationale oder religiöse Fragen zu sprechen, bin ich mir selbst sofort suspekt. Es stimmt aber, dass es sowas wie ein Grundmuster gibt, mit dem ich mich schon auf die Schöpfungsgeschichte bezog, bis zu dem Tag, an dem der Menschen auftaucht.

 

Z: Es sind sieben Kapitel mit jeweils sieben Gedichten. Eine gewisse Zahlenmystik ist demnach zumindest denkbar, zudem spielt das Metaphorische des Dinghaften eine Rolle, du stellst die Dinge auf eine andere Ebene. „Meta“, das wir für „Metaebene“ verwenden, ist das slowenische Wort für Minze und bildet die Grundstruktur des Gedichtes „Minze“. Du arbeitest stark mit den Mehrdeutigkeiten…

 

Šteger: Als Lyriker arbeitet man mit dem Ohr. Da ja „Meta“ auf Slowenisch Minze heißt, ist die Übersetzung des Gedichts eigentlich unmöglich. Das Gedicht spielt auch Dinge an, über die wir hier anfangs gesprochen haben. Wenn man auf dem Balkan unterwegs ist und Orte aufsucht, wo große Greueltaten verübt wurden und wo man noch Überreste von Toten in der Erde entdecken kann, so findet man dort sehr oft Minzefelder, die sehr gut duften. Solche Überschneidungen von fast unaussprechbar Schrecklichem und grotesk Schönem interessieren mich, sie sind in poetischen Traditionen verwurzelt, die spezifisch für den mitteleuropäischen Raum sind. 

 

Z: Die Idee des Wörterbuchs zieht sich durch das „Buch der Dinge“. Du schreibst die Problematisierung des Wörterbuchs weiter. Im Gedicht „Ameise“ steht als letzte Strophe: „Und es gibt keine Namen für Dinge, die es gibt. / Wenn sie in ihrem Labyrinth verschwindet, bleibt nur die Hoffnung, / Daß es Namen gibt für Dinge, die es nicht gibt.“ Es ist zugleich ein Sprachmißtrauen und ein Sprachvertrauen.

 

Šteger: Man kann Literatur nicht ohne einen großen Glaubensakt schreiben, man muß den Wörtern vertrauen, die man hinsetzt, und weiß zugleich ganz gut, dass es ein ganz falscher Glaube ist und man damit nicht viel bezwecken kann. In dieser schizophrenen Disposition ersteht eine tänzelnde Bewegung, manchmal gelingt die eine oder andere Pirouette, oft fällt man auf die Nase.

 

Z: Du hast eine große Palette und Bandbreite von den Dingen zu menschlichen Schicksalen, die du in kurzen Abschnitten widergibst, zum Beispiel in „Mantel“: „Erinnerst du dich an den Archivar, der Selbstmord beging wegen eines einzigen verlegten Blatts“.

 

Šteger: Mit Sibylle Lewitscharoff habe ich gerade darüber gesprochen: Es gibt eine spezifische Art des Schwarzen Humors auf dem Balkan, die oft sehr schwierig zu vermitteln ist. In Gedichten ist es noch schwieriger, weil die Andeutungen viel schneller verlaufen, weil man wirklich in den Kontext eingelesen sein muß. Ohne diesen Kontext ist es auch für die Übersetzung schwierig.

 

Z: Du sagst in einem Text, dass dein Deutsch ein „kakanisches Deutsch“ sei.

 

Šteger: Klar, das hört man ja, oder? Das Kakanische, die Melodie des ORF.

 

Z: Des ORF?

 

Šteger: Wie gesagt: Die Gegend, aus der ich komme, ist nicht mehr zweisprachig. Auch in meiner Familie sprach keiner Deutsch. Nur mein Großvater konnte noch von seiner Mutter und aus dem Zweiten Weltkrieg ein wenig Deutsch, ein alter Bäcker, der nicht mehr gut bei Fuß war. Mit ihm saß ich als Kind vor dem Fernseher und schaute mir Western an, auf Deutsch synchronisiert. Da kommt John Wayne in den Salon und sagt hart: „Guten Abend, zwei Whisky“. Ich fand das sehr komisch, dass John Wayne so spricht. Wir konnten auch ungarisches Fernsehen empfangen und es war noch schlimmer, wenn John Wayne im Western Whisky in melodischem Ungarisch bestellte.

 

Z: Im Buch der Dinge gibt es auch ganz skurrile Passagen, die stark an eine französische Pataphysik oder an Oulipo erinnern, beispielsweise die Frage „in wessen Traum werden Wolken gemacht / geht die Wahrscheinlichkeit, dass wir eines Tages fliegen, nicht gegen null?“

 

Šteger: In der Zeit, als ich das Buch der Dinge geschrieben habe, arbeitete ich auch an einer Übersetzung von ausgewählten Gedichten Pablo Nerudas, der ja einen ganzen Lyrikband publiziert hat, der nur aus Fragesätzen besteht.

 

Z: In deinen Berliner Skizzen Preußenpark steht ein ganzer Abschnitt, in dem du deine Poetik in nuce aus lauter Fragen bestehen lässt.

 

Šteger: Das kommt allerdings nicht aus meiner Beschäftigung mit Neruda, sondern hat vielmehr mit der Überlegung zu tun, wie man sich auf physische Räume bezieht. Oft ist eine Fragestellung dem Ort viel getreuer als eine Definitionssetzung oder eine genaue Beschreibung. Da engt man den Raum viel ,ehr ein als wenn man ihn mit Fragen problematisiert und zugleich offen lässt.

 

Z: Du betreibst hier ein poetisches Flanieren durch Berlin. Entsprechend kommt dein Motto von Walter Benjamin. Berlin, Sinfonie einer Großstadt gab es als Film in den zwanziger Jahren, und da war das eine schnelle Stadt. Wie geht der Flaneur heutzutage vor?

 

Šteger: Für das Flanieren, vor allem in Berlin, ist Franz Hessel sehr wichtig, der Anfang des 20. Jahrhunderts sein großes Flaneurbuch geschrieben hat. Mein Buch ist eigentlich eine große Zumutung. Es ist schrecklich, sich zunächst zu sagen, man schreibt noch ein Berlinbuch – es gibt ja schon so viele. Man sollte den Autoren – angefangen mit mir – verbieten, noch Berlinbücher zu schreiben.

Der Begriff des Flaneurs ist natürlich durch Benjamin definiert, und für mich war das Buch besonders deswegen interessant, weil ich mit zwei Medien spielte, sowohl mit den Worten als auch mit der Kamera. Im Buch sind zwanzig Fotos abgebildet, die eine Geschichte zwischen den Geschichten entwerfen sollen und zugleich nicht das Erzählte illustrieren sollen. Es war sehr interessant, als Schriftsteller durch Berlin zu gehen, weil man auf eine gewisse Weise wie ein Schwamm agiert. Man zieht herum und zieht Dinge in sich, die man zu verarbeiten versucht. Als Fotograf verhält man sich hingegen wie ein Jäger auf der Lauer nach dem richtigen Augenblick, wird man richtig hungrig nach einer bestimmten Art und Weise, wie sich Momente, Licht etc. einem präsentieren. Interessanterweise bleibt – wenigstens in meinem Fall – nichts für die Literatur übrig, wenn man als Jäger unterwegs ist. Ich mußte mich wirklich entscheiden, mache ich nun das oder das andere. Das künstlerische Medium steuert eine bestimmte Logik der Perzeption und Verarbeitung der Umgebung.

 

Z: Hast du alle Teile des Buches in Berlin geschrieben?

 

Šteger: Ja.

 

Z: Die wunderbare Skizze „Schnurrbärte“ beginnt nämlich mit dem Satz „Verfremdung tritt nicht bei der Ankunft in einer fremden Stadt ein, sondern bei der ersten Rückkehr nach Hause“.

 

Šteger: Ich bin zwischendurch mehrmals nach Hause geflogen und habe schon Erfahrungen gesammelt, wie es sein werde, wieder zu Hause zu sein.

 

Z: Du hast das Slowenische in Berlin mitgehabt. Es heißt einmal: „Wie jeder Zugereiste trage ich meinen Käfig mit mir herum“. Dein Buch ist eine Suche sowohl nach dem Verbindenden als auch nach den Unterschieden. „Der Berliner trennt sich ungleich leichter von seinen Gegenständen als der Slowene, ungleich schwerer aber von seinen Geschichten.“ Wie hast du das erfahren?

 

Šteger: Auf Trödelmärkten ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass in Berlin die Leute meistens nicht etwas verkaufen, um die Gegenstände loszuwerden sondern die Geschichten. Man muß stehen bleiben, dann wird einem die Familiengeschichte erklärt und was sie mit diesem Gegenstand zu tun hat. Aber es gibt da ein Moment des Spiels, man muß darauf eingestellt sein, man muß nachfragen. In Slowenien hingegen kauft man in einer ähnlichen Situation in Stille, ohne Kontext. Erst nach dem Erwerb wird einem oft die Geschichte nachgeworfen, sozusagen aufgebürdet. Man kann sich nicht entscheiden für oder gegen die Geschichte, die mit dem gekauften Objekt verbunden ist. Der Kauf ist schon abgewickellt und man ist im Spiel gefangen.

 

Z: Wesentlich ist die Frage der Perspektive. Wie gehst du durch dieses Berlin, aus welcher Perspektive siehst du dieses Berlin?

 

Šteger: Aus meinen 1,81. Da hat man eine bestimmte Perspektive.

 

Z: Es gibt da schon eine Perspektive, die darüber hinausgeht und mit Erfahrungen, Grenzen, politischen Erfahrungen zu tun hat. Du beschreibst deine Schriftstellerkollegin, die in der Nähe des Kaiserdamms aussteigt, sich nach der Straße des 17. Juni umdreht und sagt: „Hier bin ich in den Achtzigern fast jeden Tag gegangen, aber erst 1989 habe ich das große rote Backsteingebäude des Rathauses gesehen, das dort drüben im Osten im Abendlicht glüht.“

 

Šteger: Wir sind vom Politischen mitdefiniert, das ist keine Frage, und natürlich spielt es eine große Rolle, wo und wann und wie wir leben. Das kann man aber eigentlich nur meistens im Nachhinein, im Umgang mit Leuten nachvollziehen, was man selbst nicht sah. Es ist eine universelle Geschichte: Wir finden, dass die Perspektive, die wir haben, jeder haben könnte oder sollte – aber es ist nicht so. Und wir wissen ja meist selbst nicht, was für eine Perspektive das ist. Der schriftstellerische Prozeß ist ja dieses Auslösen oder dieses Verfeinern vom Erblicken der eigenen Perspektive, wo man sieht, dass man in den Assoziationsgängen und Parallelen sehr allein ist. Um zu erblicken, dass man sehr allein ist, dafür ist Literatur kein schlechtes Medium.

 

Z: In den Berliner Skizzen bist du als Schreibender nicht ganz allein, es gibt die Schriftstellerkollegin, es gibt die Schriftsteller im Haus am Wannsee, und da schreibst du, es sei ein „unendlicher Komparativ“.

 

Šteger: Es ist ein fantastisches Haus, ich mag die Leute dort sehr. Beim Frühstück hört man dort ein Geschirrklirren. Man frühstückt mit wunderbarem Ausblick auf einen See und fünfundneunzig Prozent der Gespräche handeln von Literatur, Literaturvermittlung, Übersetzung – eben das, worüber wir jetzt sprechen, obwohl wir vorhatten, über Fußball zu sprechen.