Universal Poet, 2021 Laudatio at Alfred Kolleritsch-Würdigungspreis der Stadt Grazby Andreas Unterwegger

Universal Poet

Laudatio für Aleš Šteger anlässlich des Alfred-Kolleritsch-Förderpreises der Stadt Graz 2020

 

Wie jeden Text will ich auch diese Laudatio für Aleš Šteger mit einem wahren Satz beginnen. Dieser Satz lautet: „Er macht viele Dinge, in deren Mittelpunkt stets das Gedicht steht.“

Nun ist der Satz freilich nicht von mir, und er spricht auch nicht von Aleš Šteger, sondern er wurde von Aleš Šteger gesagt, und zwar über mich – bei einer Lesung, die er veranstaltete. Ich wurde zwar selten so schön vorgestellt, dennoch hatte ich schon damals den Eindruck, der Satz wäre noch wahrer, wenn Aleš ihn über sich selbst gesagt hätte. Dass sich mir nun Gelegenheit bietet, genau das zu tun, sprich: an seine Stelle zu treten und über ihn zu sprechen, indem ich ihn selbst zitiere, macht mich fast schwindlig – vor Freude. Schließlich wird so auf Anhieb klar, wie viele tragende Rollen im Gefüge der grenzüberschreitenden Poesie unser Preisträger zugleich spielt: sogar seiner eigenen Laudatio hat er noch selbst, mit Wort und Tat, den Weg bereitet.

Also, noch einmal, freudiger: Aleš Šteger macht viele Dinge, in deren Mittelpunkt stets das Gedicht steht!

 

Kaum festgehalten, tauchen freilich, wie immer bei ersten Sätzen, Zweifel auf. Schließlich geht es – das wissen wir, die schreiben, schon länger, als es „Fake News“ gibt – immer noch wahrer.

Und tatsächlich: Nachdem ich Aleš Štegers neun Gedichtbände, seine ebenso vielen Prosaarbeiten (darunter zwei Romane), die acht unter seiner Herausgeberschaft erschienenen und die elf von ihm selbst ins Slowenische übersetzten Bücher (etwa von Ingeborg Bachmann oder Pablo Neruda) aufmerksam gelesen und mit ihren 59 Übersetzungen in rund 20 Sprachen verglichen habe (darunter zwölf deutsche Ausgaben bei Suhrkamp, Hanser, Schöffling und ähnlich renommierten Verlagen), nachdem ich auch sämtliche Programme des von Šteger 1996 mitbegründeten und seither mitgeleiteten Verlags Beletrina durchgegangen bin, die Line Ups des von ihm 1995 mitinitiierten und meist auch kuratierten, in Punkto Literaturvermittlung weltweit Standards setzenden Poesiefestivals Dnevi poezije in vina/Days of Poetry and Wine in Ptuj (inklusive aller Offenen Briefen an Europa, die jeden Sommer in den größten europäischen Tageszeitungen erscheinen) studiert und zuletzt auch noch zumindest einige wenige der zahlreichen weiteren internationalen Literaturprojekte, an denen dieser Weltreisende in Sachen Weltliteratur zentral beteiligt war und ist, wie etwa die EU-weit operierende, von der EU-Kommission geförderte Dichter*innen und Lyrikfestivals vernetzende Poesieplattform Versopolis oder das weltumspannende Gedichtelichtermeer share a light durchgeklickt sowie, zum Abschluss, auch noch das jüngst unter seiner Mithilfe von der Südspitze Chiles ins Weltall gebeamte, die Stimmen der Menschheit in mittlerweile 23639 Versen vereinende Universal poem auswendig gelernt habe, muss ich feststellen: Aleš Šteger macht nicht nur Dinge um Gedichte herum, nein: Das, was er macht, ist auch ein Gedicht!

 

Darin bestätigt mich der heute gefeierte Dichter auf seiner Homepage, die ich nach mehr als 800 Seiten Romanprosa, 700 Seiten Essays und rund 200 Gedichten (um bei Štegers ins Deutsche übertragenen Werken zu bleiben), auch noch zu Rate ziehe. In den ersten neun Zeilen dort bekennt der Presiträger, dass er, der doch „am Anfang“ einfach nur „Gedichte schrieb“, mit der Zeit entdeckt habe, dass seine Dichtung doch auch ganz andere Formen annehmen könne.

Šteger-Leser*innen wissen: Auch ein Jugendroman über das Verschwinden des Winters kann ein Gedicht sein. Ein in Minamisōma nahe dem Atomkraftwerk von Fukushima innerhalb von zwölf Stunden ins Tagebuch stenographierter Written-on-Site-Essay kann ein Gedicht sein. Ein Roman über die toten Seelen der Protagonisten des Kulturbetriebs, der zwei so unterschiedliche Dinge zusammenzubringen weiß wie die erschütternde Aufarbeitung mitteleuropäischer Massaker in gar nicht so ferner Vergangenheit und den Raketenstart eines als Schauspielhaus getarnten UFOs, kann ein Gedicht sein. Von den nur neun Zeilen, die seine so treffende Selbstbeschreibung auf alessteger.com einnimmt, ganz zu schweigen.

Aber auch die Programmierung eines Verlags, so möchte ich dieses Proem weiterspinnen, kann ein Gedicht sein (jedes Buch ein Vers!), auch die Konzeption einer Online-Lyrikplattform (auf der jede der hunderten Zeilen einen europäischen Dichtenden bedeutet: jeder Vers ein Lebenswerk von Versen!), und wer je unter den blauen und roten Lampions der Days of Poetry and Wine (oder waren es die Sternschnuppen eines Sommernachtstraums?) nach einer Woche voller Verse zu den Akkorden eines slowenischen Bob Dylan durch Versopolis tanzte, der weiß, dass auch ein Poesiefestival, ja, dass das Leben selbst ein Gedicht sein kann …

 

Die Doppelbegabung, sowohl mit Wörtern als auch mit der Wirklichkeit dichten zu können, sprich: nicht nur mit eigenen Gedichten, sondern auch durch die Förderung anderer Dichter*innen die Poesie, die dem Leben doch, trotz allem, innewohnt, sichtbar zu machen, ist es auch, die unseren Preisträger mit dem Namen dessen, den sein Preis trägt, verbindet.

Rund drei Jahrzehnte Leitung eines der schönsten Poesiefestivals der Welt plus, parallel dazu, ebenso lang die eines Verlags, der in dieser Zeit vom Studentenprojekt zur wichtigsten Edition des Landes aufstieg, ergeben in Summe ein ähnliches Gesamtkunstwerk wie 60 Jahre Herausgeberschaft der Literaturzeitschrift manuskripte.

Diese Gleichung mutet insofern besonders richtig an, als sich die Wege dieser beiden Literaturvermittlungsgiganten aus zwei verschiedenen Generationen nicht nur häufig gekreuzt haben, sondern auch fast am selben Punkt begannen: Kolleritschs Geburtsort Brunnsee und Štegers Ptuj trennen nur rund 40 Kilometer – und eine Staatsgrenze, die diese beiden Steirer freilich eher als Aufforderung zur Überschreitung verstanden, und zwar zur Überschreitung jeglicher Grenze.

 

Während ich Aleš Šteger oft sagen hörte, dass die Veröffentlichung in der 132. Ausgabe der manuskripte, seine erste auf Deutsch, so etwas wie den Startschuss für seine internationale Karriere bedeutet habe, erzählte Alfred Kolleritsch gerne von einer Begegnung in den slowenischen Weinbergen. Am Straßenrand sei er gesessen, der Aleš, jung und schön, und dann habe er den im Auto wie zufällig vorbeikommenden Sonntagsausflug – Mutter Kolleritsch und Sohn – gleich mit zu sich nach Hause genommen. „Dort sind wir dann herrlich zusammengesessen.“

Dass dem Autor der Pfirsichtöter oder der geretteten Köche die Gedichte seines Gastgebers von Anfang an schmeckten, überrascht nicht. Schließlich sind auch die Gedichte aus Štegers Buch der Dinge oder Buch der Körper mit jenen magischen Abkürzungen gewürzt, die uns vom sehr Materiellen, sehr Physischen, im Wortumdrehen bei den ganz großen Fragen landen lassen – Fragen, wie sie sonst nur Tarotkarten oder die großen Philosophien stellen. Das Ei, etwa dem – am Pfannenrand erschlagen – „im Tod ein Auge wächst“: was sieht es? Oder Die Wurst, „bulimische Masse, gefangen im Darm der Sprache“, der „eine Extrawurst im Minirock“ ebenso umhüllt wie „sechs Millionen vergaste Salami“: „Knurrt es in dir?“

 

Noch besser verstanden sich die beiden aber womöglich ohne Worte. Schließlich bildet das „herrlich Zusammensitzen“ (am besten unter Baumkronen, hinter Weingläsern, auf einem Hügel in der Štajerska) den großen gemeinsamen Nenner ihrer Poetiken – als Literaturvermittler. Und tatsächlich verschwimmen die Geschichten, kann man oft nicht mit Sicherheit sagen, ob sich diese oder jene begeistert vorgetragene Anekdote bei einer der manuskripte-Buschenschankrunden der 70er oder im Rahmenprogramm von Dnevi poezije in vina 30, 40 Jahre später zutrug. Eines aber steht fest: In der entgrenzten Atmosphäre des „Gleich-mitgenommen“-worden-Seins konnte die Muse der zwischenmenschlichen Poesie zu Höhenflügen ansetzen, kamen zwei sonst getrennte Dinge zusammen, wurde etwas Drittes, zuvor nicht zu träumen Gewagtes, wahr.

Zwei Dichter, die an diesem Abend nebeneinandersitzen, werden sich bald schon gegenseitig übersetzen, eine Lyrikerin, die sich bei der Ankunft noch wie auf einem fremden Stern fühlte, wird noch im Lauf des Abends als Stargast zu einem Poesiefestival in Südamerika eingeladen werden, ein blasser Student, der euphorisiert vom Anstoßen mit seinen Vorbildern durch die Reben torkelt, gewinnt ein paar Weinlesen später den Literaturnobelpreis.

Und alle, alle werden sie erzählen, dass sie all das nur einem verdanken: dem Kolleritsch-

Preisträger.

 

Anders gesagt: Wäre Alfred Kolleritsch in der Jury des Alfred-Kolleritsch-Preises gesessen, er hätte sich auch für Aleš Šteger entschieden.